Samstag, Dezember 14, 2024
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Das iPad – oder: Die Revolution bleibt (vorerst) aus

Holy Moses: Das iPad ist da!
Illustration © Dale Stephanos, http://www.dalestephanos.com

Gestern Abend wurde endlich das sagenumwobene iPad der hufescharrenden Weltöffentlichkeit präsentiert. Bereits Wochen vor der Apple-Keynote im Yerba Buena Center jaulte der Gerüchte-Motor wieder mal im roten Bereich: Mac-Fans, Börsen-Analysten und etliche “unabhängige” Journalisten überboten sich dabei in wildesten Spekulation – und sorgten zusätzlich für unbezahlbare aber kostenlose PR. Bekanntlich wissen die Jungs in Cupertino diese Marketing-Klaviatur nahezu perfekt zu bedienen.

Was wurde nicht alles in dieses Touchscreen-Wundergerät – wahlweise iSlate oder auch iTablet getauft – herein gemutmaßt und gehofft: Flach wie eine Flunder sollte dieser neuartige Mobilcomputer sein – dabei idealerweise nichts wiegen und Strom für mindestens drei Monate an Bord haben. Das Display: Bitte amtlich, so etwa 12 Zoll – und ein Mix aus brillantem AMOLED-Display für drinnen und E-Ink-Display für knalligen Sonnenschein draußen. Es sollte sämtliche eBook-Reader überflüssig machen – und obendrein noch der dahinsiechenden Pressewirtschaft neue Hoffnung geben. Ganz schön viel auf einmal für so ein kleines, unschuldiges Gadget.

Seit knapp 24 Stunden ist die Katze aus dem Sack. Die ersten Wogen von Reaktionen – teils kritisch, teils euphorisch – sind allmählich abgeebbt. Zeit, mit etwas Abstand und ganz nüchtern einen Blick auf das iPad zu werfen. Und kritisch die Frage zu beantworten, ob Steve Jobs, wenn er schon nicht die Welt retten kann, wenigstens den Computer komplett neu erfunden hat.

Was ist also dran an diesem wichtigsten Ding, das Steve je gemacht hat? Ist das iPad tatsächlich der »missing link«, die verzweifelt gesuchte Verbindung zwischen Laptop und Smartphone?

iPhone-XXL ohne Phone?

Nachdem die 90-minütige Präsentation die Ziellinie passiert hatte, fiel der bei Apple-Produktvorstellungen gewohnte Jubel nicht ganz so frenetisch aus wie sonst. Was war passiert? Einfach gesagt: Es herrschte eine gewisse Irritation. Zum einem waren die geschürten Erwartungen an dieses Gerät anscheinend viel zu hoch, zum anderen – und ausschlaggebender – gibt es wohl grundsätzlich das Problem, überhaupt zu verstehen, was man als Kunde mit dem iPad in der vorgestellten Form überhaupt anfangen soll.

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»Ist das nicht nur ein überdimensioniertes iPhone ohne Phone?«, hörte und las man überall. Diese Frage ist absolut berechtigt. Man muss nur einen schnellen Blick auf all das werfen, was das Gerät nicht drauf hat:

  • Es hat keine Kamera – also keine Chance für Videotelefonie und auch keine – ‘next-big-thing’ – augmented reality.
  • Es unterstützt kein Multitasking – also nichts mit Twittern und gleichzeitig im Fotoalbum blättern.
  • Ein regulärer USB-Anschluss fehlt – also kein einfacher Austausch von Daten.
  • Der integrierte Safari-Browser unterstützt (vorerst) keine Flash-Inhalte – MySpace wird zur Wüste.
  • Es bietet keinen Video-Ausgang – also Essig mit Video auf großem Display.
  • Es besitzt keine 16:9 bzw. 16:10-Darstellung – also nichts mit Aktentaschen-Kino ohne Trauerrand.
  • Es ist keine offene Plattform.

Warum soll man sich also für $499 Startpreis (Version mit 16 GB Speicher, ohne UMTS-Modem) ein iPad kaufen, wenn es beim wahlweise roten, blauen oder auch gelben Paletten-Discounter nette Netbooks für knapp die Hälfte gibt, die all diese tollen Features bieten? Für das bisschen Surfen, Mails lesen, Filme gucken und Musik hören reicht so ein Atom-Klappmesser doch dicke. Diese Frage ist also auch berechtigt.

Tiger im Tank?

Was aber bietet das iPad?

  • Ein kapazitives 9,7″ IPS LCD-Multitouch-Display (1024×768 Pixel @ 132 ppi)
  • Gardemaße von 240 x 290 x 13,4 mm
  • Recht leichte 680 g (bzw. 730 g mit UMTS-Modul)
  • Einen 1 GHz Apple A4 Prozessor
  • Eingebauten SSD-Speicher von 16 GB über 32 GB bis zu 64 GB
  • Standards wie: Bewegungssensor, Mikrofon, Kompass, Bluetooth 2.1 und WLAN
  • Eine Betriebszeit von bis zu 10 h
  • Standby bis zu einem Monat
  • Es unterstützt alle existierenden iPhone-Apps
  • HD-Videos können betrachtet werden
  • Volle eBook-Reader-Funktionalität ist vorhanden
  • Es wird einen Online-Book-Store namens iBooks geben
  • Es ist eine vollwertige Spielkonsole
  • Special-Content (z.B. Presseerzeugnisse) steht zur Verfügung
  • Office-Dokumente können per Touch-Bedienung bearbeitet werden
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Während der Keynote wurden die wichtigsten Anwendungen demonstriert. Was dabei (und auch bei den ersten Hands-on-Berichten) ins Auge fiel: Das iPad ist rattenschnell, der Screenaufbau läuft extrem flüssig. Durch den Zukauf der Prozessor-Schmiede PA Semi durch Apple konnten offenbar Soft- und Hardware bestmöglich aufeinander abgestimmt werden. Das lässt weitere spannende Entwicklungen für die Zukunft erwarten.

Und natürlich ist das iPad schick anzuschauen: In bester Dieter-Rams-Tradition ist – wie bereits beim iPhone – alles aufs Wesentliche reduziert.
Soweit die Goodies. Wo aber hat sich der verdammte »Wow-Effekt« versteckt?

It’s the concept, stupid!

Als erste Antwort auf diese breit angekündigte Revolution im Mobilcomputer-Sektor bleibt zunächst nur ein müdes Lächeln: »Okay, ganz nett, haben wir aber alles schon irgendwo und irgendwie gesehen. Ja, es ist toll intuitiv und stylish. So what?«

Auf das »Boom!«, was er so gerne verwendet, um die Präsentation eines Killer-Features zu untermalen, hat Steve Jobs diesmal verzichtet. Die Sprengkraft des iPad kommt nicht so offensichtlich daher wie bei einigen früheren Produkten – sie breitet sich eher subtil und ganz allmählich in den Köpfen aus: Das iPad hat immenses Potential, die Art und Weise, wie wir lesen, lernen, arbeiten und uns vergnügen radikal zu verändern.

Diejenigen, die bei diesem Satz jetzt laut losprusten müssen, mögen kurz innehalten und über folgenden Umstand nachdenken: Apple hat oft schon mit nahezu schlafwandlerischer Sicherheit die Bedürfnisse der Kunden erahnt – oder auch erst geweckt. Dieses Henne-Ei-Problem ist nicht leicht zu lösen und macht im Ergebnis auch keinen Unterschied. Vielleicht hat die Truppe um Steve Jobs die Erkenntnis gewonnen, dass es nicht darum geht, die User mit immer mehr Features und unendlichen Möglichkeiten zu beglücken, sondern, dass es zwei Dinge gibt, die zukünftig immer mehr in den Fokus rücken werden: Usability und Reduktion auf Kernfunktionen.

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Ein Blick auf das Userinterface des iPad macht deutlich, dass selbst Computerunerfahrene das Gerät in zwei Minuten bedienen können. Ausserdem: Was haben Productivity-Programme oder gar eine Konsole auf so einem Gerät zu suchen? Das iPad soll ausschließlich zur Unterhaltung und Kommunikation dienen – und dies in bestmöglicher Art und Weise. Es ist das optimale Zweitgerät für die Freizeit. Mit ein wenig Glück hat es Apple wieder mal geschafft, einen neuen Markt zu kreieren. Das iPad verabschiedet sich vom Konzept, ein Gerät für alles anzubieten. Stattdessen bekommt man für bestimmte Ansprüche hier alles aus einem Guss. Alles ist sozusagen festverdrahtet dank iTunes und AppStore. Plug-and-play in Reinform, ohne Schnickschnack und überflüssige Dönekes.

Diversifikation is coming home

Mit dem iPad hegt Apple einen großen Anspruch: Nicht der User soll sich dem Gerät unterordnen – das Gerät muss ganz allein den Bedürfnissen und Verhaltensmustern der Nutzer entsprechen. Steve Jobs bezeichnet diesen Ansatz nicht grundlos als Versuch einer perfekten Symbiose zwischen High-Tech und freier Kunst. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht, dass sich das iPad zukünftig als das ultimative Tool für Content-Konsum jeder Art am Markt etabliert.

Ob dies allerdings wünschenwert ist, bleibt dahin gestellt. Die bereits erkennbare Tendenz zur »Biotopisierung« des Internets würde damit noch weiter voran getrieben. Für jedes spezielle Bedürfnis gäbe es dann vielleicht wieder spezielle Provider und Plattformen – Apple, Google, Facebook, you name it.
Das kennen wir schon: Früher hießen sie CompuServe oder AOL.

Und nicht für jedermann ist die Vorstellung prickelnd, sich von Steve Jobs vorschreiben zu lassen, wie er seine Dosis Unterhaltung einzunehmen hat.

EDIT:

A propos Unterhaltung: Wer sich dem »wichtigsten Ding« mit der vielleicht nötigen Portion Humor nähern möchte, findet sicher Gefallen an diesem Mash-Up-Video – in dem Bruno Ganz (aka “The Fuhrer going under”) seinen Unmut über das iPad äußert. Ton runter drehen und Untertitel lesen 😀

Andreas Stobbe
Andreas Stobbehttps://trendpiraten.tv
Andreas Stobbe verfügt über umfangreiche Erfahrung in interaktiver Kommunikation und Marketing und ist Mitgeschäftsführer von Reality Bytes. Er konzentriert sich auf die Entwicklung multimedialer Inhalte und beaufsichtigt die Kundenbeziehungen der Agentur. Dank seiner kreativen Vision konnte sich Trendpiraten.tv als dynamische Plattform profilieren, die sich digitalen Trends widmet. Kontakt: stobbe@trendpiraten.tv
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